Geschichte einer untergegangenen Stadt

Von der Küstriner Altstadt ist nichts übriggeblieben. Fast nichts. Die barocke Altstadt mit Marktplatz, Kirchen, Renaissanceschloss, engen Gassen mit Wohnhäusern liegt oder lag innerhalb einer Festung auf einer Landzunge zwischen der Mündung der Warthe in die Oder. Die Reichsstraße 1 führte durch diese Stadt. Heute kann man durch die Altstadt über alte Kopfsteinpflaster spazieren. An manchen Stellen sind die Bordsteine zum Fußgängerweg und die Gullydeckel noch erhalten. Auch einige Treppenstufen zu den Hauseingängen und Fundamente der Gebäude sind zu erkennen. Von Schloss und Kirche ist jeweils nur ein kleiner Steinhaufen übrig. Im Kampf um Küstrin gegen Ende des zweiten Weltkrieges wurde die Stadt zu 90 Prozent zerstört. Tausende Menschen sind gestorben.

Gästeführer Klaus Ahrendt versucht in seinen Führungen die Stadt wieder lebendig werden zu lassen. Man spaziert mit ihm durch die Rosen- und Apothekergasse, Berliner und Kietzer Straße. Er zeigt Fotos, Pläne und alte Ansichtskarten. Er erzählt Geschichten von Menschen, die diese Stadt über Jahrhunderte geprägt haben. Hätte man Anfang der 90er Jahre die Altstadt bzw. das, was davon übriggeblieben ist, nicht systematisch freigelegt, wäre sie heute in einem dichten Wald komplett verschwunden, überwuchert, begraben. So ist heute zumindest der Grundriss der Stadt zu erfahren.

In Küstrin wurde preußische Geschichte geschrieben. In die Stadtführung baut Ahrendt detailliert die Geschichte des Kronprinzen Friedrich, dem späteren Friedrich dem Großen, rund um seinen gescheiterten Fluchtversuch, ein. Der junge Friedrich, der sich für Musik und Literatur interessierte, wollte den strengen Erziehungsmethoden seines Vaters, dem Soldatenkönig Friedrich I., entkommen.  Die Flucht misslingt.  Der Kronprinz kommt in Festungshaft nach Küstrin. Sein Jugendfreund und Mitwisser Hans Hermann von Katte wird zum Tod verurteilt. Als zusätzliche Strafe mutet der Vater ihm zu, dass er bei der Hinrichtung seines besten Freundes Katte vom Fenster seiner Zelle zusehen sollte.

Ahrendt interessiert sich seit Jahrzehnten für die Stadtgeschichte der heute polnischen Stadt Kostrzyn nad Odrą. Er ist Deutscher aus Berlin und zog nach der Wende an die Oder. Er lernte polnisch und bekam an seinem neuen Wohnort immer mehr Kontakte. Oft wurde er von Besuchern und Touristen nach der Geschichte der Stadt gefragt. Er arbeitete sich ein, forschte zu der Geschichte der Preußen, ging in Archive, las dort Dokumente und Gerichtsurteile rund um das Drama mit dem Kronprinzen und seinem Freund Katte. Sein erarbeitetes Wissen veröffentlichte er auf seiner Webseite. „Damit fing der Streit mit der polnischen Stadt Kostrzyn an.“ Ahrendt bildete sich als Gästeführer und Reiseleiter weiter. Und irgendwann bot er Führungen durch die ehemalige Altstadt an, die er immer mehr perfektionierte. Das war der Stadt und dem Leiter des Museums Festung Küstrin ein Dorn im Auge. Es folgten mehrere Gerichtsverfahren in mehreren Instanzen in Polen. Bei allen hat er recht bekommen. Er darf seine Führungen weiter anbieten.

Ahrendt kennt nicht nur die Stadtgeschichte, sondern weiß auch von Menschen, die immer wieder in ihre Heimatstadt, die sie als Kinder verlassen mussten, zurückkommen. Er erzählt von einer älteren Dame, die regelmäßig in die Stadt kam, eine Bratwurst kaufte, sie aber nicht vor Ort aß, sondern diese einpacken ließ und weiter ging. Eines Tages fragte er sie nach dem Grund: Sie erzählte, dass sie damit in die Küstriner Altstadt ginge und sich auf die Treppenstufen, das Einzige, was von ihrem Elternhaus übriggeblieben sei, setzen und dort ihre Wurst essen würde. Eines Tages erinnerte sie sich daran, dass die Familie immer einen Hausschlüssel in einem Loch in der Treppe versteckt hätte. Angeblich fand sie den Schlüssel zu ihrem nicht mehr existierenden Elternhaus.

Kostrzyn nad Odrą liegt auch heute noch an einer wichtigen Verkehrsstraße. Wo sich einst die Festungsanlagen rund um die Altstadt befanden, gibt es heute eine Tankstelle, ein Hotel, Restaurant und Einkaufsmöglichkeiten. Als Erinnerung an ein ehemaliges Zugangstor zur
Festung hat man um die Tankstelle ein stilisiertes Tor aus Backsteinen gebaut. Die heutige Stadt Kostrzyn mit knapp 18000 Einwohnern am gegenüberliegenden Ufer der Warthe wurde auf den Ruinen der ehemaligen Küstriner Neustadt nach dem Krieg neu aufgebaut – teilweise mit Baumaterial aus der Altstadt.

Menschen flanieren heute durch die ehemalige Altstadt wie durch einen Park. Dort, wo einst Häuser standen, wachsen Bäume und Gestrüpp aus den Grundmauern und Kellerschächten. Der Marktplatz ist eine riesige wilde Naturfläche. Ein Teil der Befestigungsanlagen zur Oder hin wurde restauriert. Von dort hat man einen wunderbaren Blick auf das Odertal. Straßenschilder mit den alten Straßennamen, ein paar Informationstafeln und die Mauerreste der Marienkirche holen einen wieder zurück: Dies ist kein Park ist, sondern ein Gedenk- und Erinnerungsort an die katastrophalen Folgen eines brutalen Krieges.

Klaus Ahrendt möchte die Geschichte der ehemals preußischen Stadt Küstrin, der heutigen polnischen Stadt Kostrzyn nad Odrą in seinen Führungen weitererzählen und so die Erinnerung an diese untergegangene Stadt wachhalten.

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