„Die nächste Katastrophe ist nicht auszuschließen“

„Der Fischbestand in der Oder kann sich in einem Jahr nicht erholen“, so Dr. Christian Wolter von der Abteilung Biologie der Fische, Fischerei und Aquakultur am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in einem Telefoninterview. Das IGB ist das bundesweit größte und eines der international führenden Forschungszentren für Binnengewässer.

Die Fortpflanzungsbedingungen für die Fische in der Oder seien in diesem Jahr gut gewesen. Es gab lange anhaltendes Hochwasser, so dass die Fische auf den überfluteten Ufern gut laichen konnten und die Fischbrut sehr gute Wachstumsbedingungen fand. „Aber selbst bei guten Bedingungen dauert es zwei bis drei Jahre, bis der Fischbestand wieder hergestellt ist.“ Wolter hat eine weitere gute Nachricht: „Bisher wissen wir von keiner Art, die verschwunden ist. Das heißt, alle Fischarten in der Oder, die wir kennen, haben wir wieder gefunden.“

Aber: „Die nächste Katastrophe ist nicht auszuschließen.“ Der Fluss steht nach den Beschreibungen des Wissenschaftlers unter ähnlichem Stress wie im letzten Jahr. Er zählt auf: Hitze, hohe Sonneneinstrahlungen, hoher Nährstoffeintrag, niedriger Wasserstand, hohe Wasserverweilzeiten (eine Grundvoraussetzung für gutes Algenwachstum) und hoher Salzgehalt im Wasser. „Wir sind aktuell im gleichen Bereich, wie im letzten Jahr.“  Der Zusammenhang des hohen Gehalts an Kochsalz (NaCl) und dem Fischsterben überraschte die Wissenschaft im letzten Jahr. Zum Hintergrund: Die Goldalge ist eigentlich eine Brackwasseralge, das heißt sie lebt in einer Mischung aus Süß- und Salzwasser.  Tritt sie in Massen auf, kann sie ein Gift produzieren, das Fische ersticken lässt. Genau das ist im letzten Jahr passiert. „Und die Bedingungen sind so, dass die Alge jederzeit wieder aufblühen könnte.“

Kurzfristig lässt sich da kaum etwas ändern, so der Wissenschaftler. Temperaturen und Sonneneinstrahlung lassen sich nicht beeinflussen. Auch der Nährstoffeintrag über Landwirtschaft, Haushalte und Kläranlagen lässt sich kurzfristig nicht beeinflussen. „Die Salzeinleitungen sind das Einzige, was man kurzfristig ändern könnte“, so Wolter. Aber egal, ob man Elektrolyse zum Entsalzen des Wassers nutzt oder die Abwässer verdünnt, alle Behandlungsmöglichkeiten sind teuer und aufwändig. Wolter betont, dass diese Salzeinleitungen in Flüsse kein polnisches Thema seien. „Saale und Werra haben eine ähnlich hohe Leitfähigkeit.“ Mit der Leitfähigkeit misst man den Ionengehalt des Wassers und somit den Salzgehalt. Allerdings handelt es sich in Werra und Saale nicht um Kochsalz wie in Polen, sondern um Kalisalze. Ein Glücksfall für deutsche Flüsse – zumindest hinsichtlich der giftproduzierenden Goldalge.“

„Mit der Oderkatastrophe hat man das erste Mal den größeren Zusammenhang zwischen Leitfähigkeit des Wassers und Fischen hergestellt.“ Leitfähigkeiten in dieser Höhe sind für Fische nicht gefährlich. „Die indirekte Gefahr über die Goldalge stand nicht im Fokus.“

Man sprach im letzten Sommer meist vom Fischsterben. „Aber die Muscheln in der Oder waren in noch viel stärkerem Maß betroffen. Das haben wir an drei Kontrollfeldern im Nationalpark Unters Odertal festgestellt. Wir gehen davon aus, dass sich der Muschelbestand in der Oder deutlich reduziert hat.“  Wolters Schlussfolgerung: „Der Fluss ist dadurch noch sensibler gegenüber Belastungen geworden, da Muscheln als effektive Filtrierer für das Ökosystem wichtig sind.“ Wie sich die Muschelbestände derzeit erholen, sei nicht bekannt. Klar ist aber, dass Muscheln zur Vermehrung auf einen gesunden Fischbestand angewiesen sind. „Bei guten Bedingungen brauchen Muscheln fünf bis acht Jahre zur Erholung.“ 

Der geplante und teilweise schon begonnene Oderausbau auf polnischer Seite hat laut Wolter großen Einfluss auf den Fischbestand der Oder. „Wenn es das Ziel ist, die Sandbänke in der Flussmitte zu homogenisieren, also einzuebnen, dann werden wir Fischarten wie Quappe und Ostseeschnäpel verlieren. Bestände an Stromgründlingen werden deutlich reduziert werden.“ Und noch ein Problem sieht Wolter: Durch den Ausbau wird das Wasser schneller abgeleitet, somit werden niedrige Wasserstände früher im Jahr einsetzen und länger anhalten, was zu einer weiteren Entwässerung der umliegenden Landschaft führt. „Im Gegenteil, es wird Wasser aus der Landschaft abgezogen. Bei der derzeitigen Trockenheit wäre das keine gute Entwicklung.“

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