„Ich hatte eine gute Kindheit“, erzählt sie. „Mein Vater hatte eine kleine Tischlerei und nebenbei betrieben wir eine kleine Landwirtschaft. Die Erde in Krasne war sehr gut und fruchtbar. Wir waren arm, aber ein bisschen Wohlstand gab es doch in unserer Familie“, erinnert sich die ältere Dame. Ihr Opa war in den 20-er Jahren nach Amerika ausgewandert. „Nach Detroit, dorthin wo es Arbeit gab. Er hat uns manchmal Pakete geschickt, so groß wie der Tisch“, erzählt sie, während sie auf den Esstisch zeigt, an dem bequem sechs Personen sitzen können. Sie erinnert sich an Tischdecken und Pelzmäntel, die per Post von Detroit nach Krasne reisten. Sie erzählt auch von anderen Familienmitgliedern, die sich nach der Unabhängigkeit Polens 1918 auf der Suche nach Arbeit über den Erdball verteilten – „Paraguay, Argentinien und in den Vereinigten Staaten“, zählt sie auf.
Es dauert eine Weile bevor sie von den Kriegsjahren erzählt. „In Krasne haben Polen, Juden, Deutsche und Ukrainer zusammengelebt. Es war friedlich, bis der Krieg begann. Während der Kriegsjahre und zu Kriegsende habe ich so viele Tote gesehen, obwohl ich noch ein Kind war. Ich habe gesehen, wie Juden getötet wurden. Die reichen Juden sind geflohen. Am 17. September 1939 wurde Polen von der von der Sowjetunion angegriffen. Später wurde ihre Heimat von Deutschland besetzt.“ Immer wieder habe sich die Familie aus Angst vor Gräueltaten versteckt. Lidia erzählt von der Angst zunächst vor Russen und später vor den ukrainischen Nationalisten, den Banderas, wie sie die Anhänger von Stepan Bandera nennt. Und wieder erzählt wie von den Toten und der Angst vor Massakern an polnischen Familien.
Sie erzählt von ihrer Schulzeit in Krasne: „Dort mussten wir ukrainisch sprechen, was meine Mutter überhaupt nicht mochte. Zuhause sprachen wir nur polnisch.“ Sie erzählt von ihrem Zeugnis mit einem Porträt von Stalin. „Ich habe mit einem Bleistift die Augen übermalt. Meine Mutter war entsetzt und hatte Angst, dass die Familie nach Sibirien verschleppt würde. Deshalb verbrannte sie das Dokument.“
Ihr Vater Mikołaj starb 1945 kurz vor Kriegsende in Dresden während einer Explosion auf einer Elbbrücke. Es sei schon immer gegen die Russen gewesen. „Er hat uns gelehrt, dass die Russen Feinde der ganzen Welt sind.“
Eine Zukunft für die damals 13-jährige Lidia, ihren Bruder Henryk und ihre Mutter Antonina gab es in Krasne nicht mehr. 1946 kam der Befehl an alle Polinnen und Polen, das Gebiet zu verlassen. Anfang 1946 bestieg Lidia mit ihrer Mutter, ihrem Bruder, Verwandtschaft und anderen Familien aus Krasne einen Güterzug nach Gubin. Warum Gubin? „Es gab Züge nach Krakau, Breslau und Gubin. Wir hatten keine Wahl und so landeten wir gemeinsam mit Kuh, Pferd und Hühnern in dem Zug nach Gubin. Zwei Wochen dauerte es, bis der Zug ankam.“ Hier konnten und wollten die polnischen Familien aus Krasne nicht bleiben, denn die Stadt war komplett zerstört und es gab keine Ställe für die Tiere. Die Familien suchten eine Bleibe für Mensch und Tiere. Und sie wurden fündig. „Wir zogen alle zusammen nach Gębice, ein Dorf etwa zwölf Kilometer südlich von Gubin. Hier gab es Häuser und Ställe. Das Dorf war leer. Die Deutschen waren alle weg. Sie wurden auch vertrieben.“
Lidia erinnert sich, dass die Verwandtschaft sie, ihren Bruder und ihre Mutter nach Amerika holen wollte. „Meine Mutter war stur und wollte hierbleiben. Sie war erschöpft und wollte nicht weiterreisen. Aber die Verwandtschaft unterstützte uns viele Jahre mit Geld.“ Lidia sagt über sich selbst: „Ich war traumatisiert, da ich so viele Tote und Halbtote gesehen habe.“ Gleichzeitig schwärmt sie von Gębice. „Zehn polnische Familien aus Krasne sind hier untergekommen. Das Dorf war nicht zerstört. Wir hatten das schönste Haus. Die Mauern, das Dach und die Ställe waren in Ordnung. In unserem Haus gab es sogar eine elektrische Getreidemühle, die wir noch viele Jahre nutzten. Es war so modern, dass es eine Wasserleitung in den Stall gab“, schwärmt Lidia noch heute. Allerdings seien die Russen vorher in dem Haus gewesen und hätten sie ruiniert. „Auch manche Möbel waren teilweise von den Russen zerstört und das Porzellan zerschlagen worden“, beschreibt sie, wie die Russen mit dem ehemaligen Besitz der Deutschen umgegangen sind. „Ja, uns war bewusst, dass hier deutsche Familien lebten, die vertrieben wurden und alles zurücklassen mussten.“
Lidia Fiedorowicz mit ihrem Sohn Czesław und Fotos von ihrem 1945 verstorbenen Vater Mikołaj und ihrem vor kurzem verstobenen Mann Bolesław.
Nach den Jahren voller Angst und Gewalt fühlte sich Lidia in Gębice sicher. „Wir waren mit allem zufrieden, was wir hatten, auch wenn wir arm waren.“ Zwölf Jahre bleibt sie mit ihrem Bruder und ihrer Mutter in Gębice in dem Haus, das einst Deutschen gehörte. 1958 zieht sie mit ihrem Mann Bolesław, der aus Wilnius vertrieben wurde, nach Gubin. Das Haus ist noch heute im Familienbesitz, es gehört Lidias Sohn Czesław Fiedorowicz.
Von der Angst, dass die Deutschen wiederkommen könnten und ihre Häuser eventuell zurückfordern würden, wusste Lidia nichts. Sie hatte eher Angst, dass sie nach Krasne in die ehemaligen polnischen Gebiete, die nach dem Krieg zur Sowjetunion gehörten, zurückmuss. „Am Anfang hieß es, dass wir nur vorübergehend in Gubin bleiben müssten und wir dann wieder nach Krasne zurückkönnten. Aber wir wollten gar nicht zurück. Ich hatte immer noch Angst, dass man uns dort töten würde. Diese Angst blieb in meinem Kopf.“
Lidia ist es ein dringendes Anliegen über ihre deutschen Freunde zu erzählen. Sie holt Fotoalben aus dem Schrank und kommentiert: „Das sind nicht nur Freunde, das ist für mich auch Familie.“ 1971 als Reisen zwischen Polen und der damaligen DDR möglich wurden, lernte die Familie Fiedorowicz mehrere deutsche Familien kennen, Vertriebene aus Zielona Góra, Gubin und Gębice. Auch die ehemaligen Besitzer des Hauses in Gubin kamen eines Tages. „Reden konnten wir wenig miteinander. Wir sprachen kein Deutsch und die sprachen kein polnisch. Aber wir haben verstanden, dass auch sie ihre Heimat verlassen mussten“, schwärmt Lidia, während sie Fotos der Familien, der Kinder und Enkelkinder zeigt, quasi Fotos der Verwandschafts. 1968 besuchte die vierfache Mutter das erste Mal ihren Geburtsort Krasne, 800 Kilometer von Gubin entfernt.
Gefragt nach den Traditionen, die sie sich aus dem Ort ihrer Kindheit bewahrt hat, schwärmt die 90-Jährige von den Früchten aus dem Garten und Gebäck vergleichbar mit Berlinern. Sie sagt Rezepte auf, während sie ihren Sohn in die Küche schickt, um „Mamałyga“ – eine Mischung aus Maismehl und Wasser mit Kirschkonfitüre zum Probieren zu holen. Und dann erzählt sie von Musik und den vielen Liedern aus ihrer Heimat und fängt an zu singen – erst ein polnisches Lied und dann ein ukrainisches Lied. Sie scheint den Text im Kopf zu haben. Sie erzählt, dass sie in Krasne im Chor gesungen habe und später auch in Gębice. „Jetzt bin ich hier zu Hause und Krasne habe ich in meinem Herzen.“
Vielen Dank an die Dolmetscherin Anita Carewicz.