Ein Ort zum Geschichten Sammeln

Monika Szymanik sammelt Geschichten. „Und es kommen immer mehr Geschichten auf mich zu“, so die 47-Jährige in ihrem kleinen Café in der Stettiner Altstadt. „Zuerst habe ich mich nur in den Fußboden verliebt und hätte mir nie träumen lassen, welche Schätze hier verborgen sind. Und jetzt ist dieser Ort mein Leben, in dem ich alles verbinden kann, was mir wichtig ist: Bücher, Kaffee, Begegnungen mit Menschen und deren Geschichten.

Aufgewachsen ist Monika Szymanik in einer polnischen Kleinstadt im sechsten Stock eines Nachkriegswohnblocks. Ihr Kindergarten war in einem Altbau. Sie mutmaßt, dass da vielleicht schon ihre Liebe zu Altbauten geweckt wurde. Sie lebte acht Jahre in Hamburg, arbeitete als Au-pair und studierte nebenbei in Stettin Germanistik. „Seit ich mit meinem Mann in Stettin lebe, habe ich nur in Altbauten gelebt. Zunächst im schönsten Jugendstilhaus in Stettin“, schwärmt sie. Einige Jahre später entdeckte sie ein Haus im Wald. „Es war wunderbar, das Haus im Wald zu haben und die Wohnung in der Stadt, aber auf Dauer zu teuer.“ Da sie nicht als Deutschlehrerin arbeiten wollte, begann sie ihren Traum zu verwirklichen und ein Buch über Altbauten in Stettin zu veröffentlichen. „2018 eröffnete ich meinen Instagram-Account, zog mit meinem Smartphone durch die Straßen Stettins, machte Fotos und klingelte an Türen alter Häuser. Viele Menschen öffneten ihre Wohnungen, ließen mich fotografieren und erzählten mir ihre Lebensgeschichten.“

2019 erschien das Buch ‚Altbauliebe einer Stettinerin‘ auf Deutsch und Polnisch im Eigenverlag, ein Bildband mit wunderschönen Fotos und persönlichen Texten von Monika Szymanik. „Am Anfang habe ich das Buch im Internet verkauft, aber ich dachte, ich brauche einen Ort in meiner Stadt Stettin, an dem ich das Buch präsentieren kann.“ Gemeinsam mit ihrem Mann suchte sie ein leeres Ladenlokal, um ein kleines Café zu eröffnen und fand eine ehemalige Metzgerei in der Pocztowa 19. „Keiner wollte diesen ehemaligen Laden, er war auch völlig heruntergekommen, aber ich sah diesen Mosaikfußboden und wir mieteten diesen kleinen Raum und begannen zu renovieren.“ Hinter einer verputzten Wand entdeckten sie die Originalfliesen der Metzgerei von 1904 mit dem Schriftzug „Ohne Fleiß kein Preis“.  Es wurde zum Schmuckstück und Blickfang in dem kleinen Café. Auf der gegenüberliegenden Seite sind große Spiegel in goldenen Rahmen, die die Fliesenwand noch mehr zur Geltung bringen.

Mittlerweile hat Monika mehrere Bücher veröffentlicht. In dem Kellerraum hat sie ein kleines Museum mit Vorkriegsgegenständen eingerichtet – eine alte Mangel, alte Fliesen mit der Aufschrift „Morgenstund hat Gold im Mund“, einen alten Pappkarton, in dem Opekta-Geliermittel verpackt war. „Es sind alles Sachen, die die Menschen irgendwo auf Dachböden oder unter Fußböden gefunden haben.“

Doch damit nicht genug: Vor drei Jahren kam Michał Lewandowski mit einem Foto in das Café. Es zeigte ihn als kleinen Jungen mit seinen Eltern in dem Metzgerladen. Sein Vater verließ Polen in den 1920er Jahren und lebte und arbeitet als Metzger in Paris. Er heiratete eine Polin, die einige Zeit in Deutschland in einem Konzentrationslager war. 1946 kommt Michał in Paris zur Welt. 1948 zieht die Familie im Zuge der Polonisierung nach Stettin und übernimmt den kleinen Metzgerladen mit dem Schriftzug „Ohne Fleiß kein Preis.“  Der Betrieb wurde Anfang der 1950er Jahre verstaatlicht, die Familie wollte zurück nach Paris. Dafür bekamen sie aber im sozialistischen Polen keine Genehmigung. Das Foto der Familie hängt jetzt an den historischen Kacheln.

Die Autorin erzählt noch eine andere Geschichte: Sie trifft eines Tages einen Mann vor dem Jugendstilhaus, in dem sie die Wohnung hatte. Sie kommt mit ihm ins Gespräch und Siegmar Jonas erzählt, dass er 1940 in Stettin geboren sei und bis 1946 in jenem Haus wohnte, eine Etage höher. Es entwickelte sich eine Freundschaft und ein Buch. Monika Szymanik hat die Kindheitserinnerungen der fünf Jahre älteren Schwester Christel ins Polnische übersetzt. Die Schwester kam als dreijähriges Mädchen 1938 mit ihrer Familie von Berlin nach Stettin. Für das Buch hat Monika Fotos von vielen Orten in Stettin gemacht, die in den Kindheitserinnerungen erwähnt werden. Jetzt arbeitet sie daran, das Buch auf Deutsch herauszubringen und es mit Fotos aus Berlin zu ergänzen. Dorthin ging die Familie wieder zurück als sie Stettin verlassen mussten.

„Ich suche immer, was uns verbindet und nicht, was uns trennt. Siegmar und mich hat das Altbauhaus verbunden. Menschen, die das Buch jetzt kaufen, verbindet es mit ihrer eigenen Geschichte. Sie waren vielleicht im Winter in dem gleichen Park beim Schlittschuhlaufen wie Christel.“ Die Stettinerin ergänzt: „Unsere deutsch-polnische Geschichte ist nicht einfach, aber es hilft immer die Gemeinsamkeiten zu suchen. Christel vermutete sicherlich nie, dass ihre Kindheitserinnerungen als ‚Dzieciństwo‘ auf Polnisch erscheinen würden.“

„Ich möchte die ganze Geschichte Stettins erzählen und dazu gehört auch die deutsche Geschichte“, erklärt die Autorin. Und dass das Interesse groß ist, zeigt der Erfolg ihrer Bücher, das Café und die weit über 10 000 Follower auf Instagram. „Kamienica w lesie“ – Haus im Wald – wurde zu ihrem Markenzeichen.

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