Schon vor der Wende wurde in Wulkow nicht mehr in die Infrastruktur investiert und die LPG im Ort nicht mehr genutzt. Marianne Schmidt, Bürgermeisterin in Wulkow vor, während und nach der Wende, erinnert sich: „Wir wollten unser Dorf nicht aufgeben und die massive Abwanderung die Wulkow drohte, nicht akzeptieren. Nach der Wende hatte keiner mehr Arbeit, also haben wir vor Ort Arbeit organisiert.“ Man besann sich auf traditionelles Handwerk und bäuerliche Traditionen. „Wir produzierten Gemüse, backten Kuchen und Brot und luden regelmäßig zu Marktagen ein.“ Aktive Dorfbewohner entwickelten die Vision, Wulkow zu einem ökologischen Dorf zu entwickeln und gründeten den Verein Ökospeicher mit dem ehemaligen LPG-Getreidespeicher als Zentrum.
In der Folge wurden zahlreiche weitere Projekte realisiert und neue Wege ausprobiert. Wulkow war Modellgemeinde für ökologische Dorfentwicklung in Brandenburg, hatte die erste PV-Anlage in Brandenburg, ist Träger des Deutschen Umweltpreises, war dezentrales Projekt der Expo 2000 und Neulandgewinner. Aber das Wichtigste: Es gab Zuzug, Häuser wurden renoviert, neue Eigenheime und ein größerer Kindergarten gebaut und es entstanden Arbeitsplätze im Ort.
Der Energieberater Martin Merk hörte in der Schweiz von dem Projekt und besuchte es mit seiner Familie. „Wir erkannten sofort, dass man hier mitgestalten und etwas aufbauen kann.“ Also zogen sie 1991 aus der Schweiz nach Wulkow. Martin gründete ein Ingenieurbüro, seine Frau einen landwirtschaftlichen Biobetrieb, es gab eine Schreinerei, Fischzucht, einen Kindergarten, Kunsthandwerk, Imker, touristische Angebote. „Es wurden damals Leute gesucht, die unternehmerisch aktiv sind, um Arbeitsplätze im ökologischen Bereich zu schaffen“, erinnert sich Martin.
Überregional bekannt wurde das Dorf mit einem an ein Ufo erinnerndes Niedrigenergiehaus, das vom Umweltministerium des Landes Brandenburg gefördert wurde. Zeitgleich stemmten die ansässigen Unternehmen und der Verein den Ausbau des ehemaligen Getreidespeichers auf mehreren Etagen. Interessierte aus ganz Deutschland und aus anderen Ländern und Kontinenten kamen nach Wulkow, um sich das Modell der ökologischen Dorfentwicklung anzuschauen.
Auch Dieter Krawczynski engagiert sich seit 31 Jahren für Wulkow und den Verein. „Mich hat die Idee fasziniert, nicht in Lethargie zu verfallen, sondern das Dorf und die Gebäude zu retten und das Dorfleben aktiv zu gestalten.“ Der 69-Jährige lebt in Frankfurt, ist aber regelmäßig im Ökospeicher. „Der Verein hat den ehemaligen Getreidespeicher zu einem Gäste-, Seminar- und Veranstaltungshaus umgebaut. Dabei wurden vor allem durch unsere „rüstigen Rentner“, handwerklich versierte Mitglieder des Vereins, viele Stunden ehrenamtliche Arbeit geleistet.
Durch den Verein wurden über viele Jahre internationale Jugendcamps organisiert, Workshops zum ökologischen Bauen und Sanieren sowie Lehmbauseminare veranstaltet, ein Backhaus errichtet, Markttage und Kulturveranstaltungen organisiert, Netzwerke aufgebaut. Der Verein pflegt Kontakte zu zwei Naturschutzverbänden in der polnischen Woiwodschaft Lebus. Auch hier engagiert sich Dieter aufgrund seiner Sprachkenntnisse. „Wenn wir es auf lokaler Ebene nicht schaffen, Freundschaften und Partnerschaften über Grenzen hinweg aufzubauen, wie soll es dann in der großen Politik gelingen?“, begründet er die Zusammenarbeit mit dem Wiesenmuseum in Owczary und den Naturfreunden in Słońsk.
Ines Tauer ist eine der wenigen Beschäftigten direkt beim Verein. „Es ist aber mehr als ein Job, es ist auch Engagement für die Sache. Ich bin 1997 hierhergezogen, weil mir die ökologische Ausrichtung gefiel und ich hier leben und arbeiten konnte.“ Die Märkte mit regionalen Produkten sind immer noch ein wichtiges Anliegen für die 61-Jährige. Allerdings finden die Märkte nicht mehr wöchentlich, sondern nur noch ein paar Mal pro Jahr zu ausgewählten Anlässen statt. Diese Höhepunkte sind in der Region beliebt und gut besucht. Für einen Wochenmarkt ist Wulkow zu abgelegen.
Jeden Freitag von 10 bis 13 Uhr verkauft Hanne Hiekel im Getreidespeicher ein ausgewähltes Angebot an Bio-Lebensmitteln aus der Region. Mitglieder des Vereins haben einen Schlüssel und können jederzeit einkaufen. „Alles läuft auf Vertrauensbasis“, so die 79-Jährige. Jeder trägt in das Kassenbuch ein, was vom Regal in den Einkaufskorb wandert. Martin ergänzt: „Es sind insgesamt zirka 60 Schlüssel im Umlauf und es funktioniert seit Jahrzehnten hervorragend. Ein cooles Projekt, das zur Lebensqualität beiträgt.“
Doch wie geht es weiter in Wulkow? Diese Frage bewegt auch Martin, mittlerweile 60 Jahre. „Der Verein ist noch sehr aktiv, aber das Durchschnittsalter der Mitglieder entspricht meinem eigenen.“Alle sind sich einig, dass die Weichen jetzt gestellt werden müssen, damit Wulkow Dorf mit Zukunft bleibt. Es braucht junge Leute, die sich für Wulkow engagieren. „So ein ehrenamtlich arbeitendes
Gremium, wie wir es jetzt haben, ist für die meisten jungen Leute nicht mehr attraktiv“, weiß Martin. „Lange haben wir unsere Ideen und Visionen kommuniziert, jetzt ist es aus unserer Sicht an der Zeit, dass Menschen kommen, die eigene Ideen entwickeln und umsetzen und auf dem, was hier ist, aufbauen.“ Der Verein hat einen Coach beauftragt, den Generationswechsel zu begleiten. „Ich bin überzeugt, dass es Leute gibt, die Ideen haben, was man hier Cooles machen kann. Unterstützungs- und Fördermöglichkeiten gibt es genügend.“ Martin ist sich bewusst, dass dieser Generationswechsel auch zu Konflikten führen kann, „aber es wäre tragisch, wenn der klimaneutrale Speicher keine oder eine dem Dorfleben abträgliche Nutzung findet“.
Die Übergabe des Biohofes von Martins Frau an neue Betreiber hat reibungslos funktioniert. „Das gibt mir Hoffnung, dass es mit dem Speicher und dem Verein auch funktionieren kann“, so Martin. „Es gibt keinen Leerstand in Wulkow und es leben auch junge Familien hier“, blickt Marianne optimistisch in die Zukunft. Hanne plant den Kindertag. Das Dorffest steht an und im Veranstaltungskalender des Ökospeichers stehen einige Kulturveranstaltungen. Es geht weiter.