„Wir fielen ins Bodenlose“

Das Görlitz östlich der Neiße bezeichnet Wolfgang Rösler heute als „Heimat meiner Kindheit“. Damit war 1945 schlagartig Schluss – sowohl mit der Heimat als auch mit der Kindheit.

„Obwohl ich aus einer einfachen Familie komme, erlebte ich als Kind so etwas wie Wohlstand. Mit meinen Eltern und meiner Schwester zog ich 1936 in einen großen Wohnblock, ein Neubau, der für damalige Verhältnisse komfortabel war.“ Der 90-Jährige erinnert sich auch nach 78 Jahren noch an den Straßennamen: Schenkendorffstraße.  Heute ist die Straße im polnischen Teil der Stadt Görlitz, in Zgorzelec, und heißt Warszawska. Rösler erzählt lebhaft von seiner Kindheit. Anhand von alten Stadtplänen, die er sich in der Stadtbibliothek hat kopieren lassen, zeigt er die Spielplätze, auf denen er unterwegs war. „Wir hatten so viel Platz zum Toben und Spielen.“ Er erinnert sich an den Feldberggarten mit Rodelhang und Skiberg und einem Teich, der zum Schlittschuhlaufen einlud.  „Der Friedrichsplatz war für uns auch sehr wichtig, denn dort gab es Zirkusvorstellungen, aber auch Aufmärsche der Nationalsozialisten.“ Der Krieg berührte die Kinder im damaligen Görlitz laut Rösler wenig. „Wir bejubelten die regelmäßigen Truppentransporte Richtung Osten durch Görlitz. Die Nazipropaganda hatte ihre Wirkung. Später als die Kriegsgefangenen in das Lager getrieben wurden, haben wir uns versteckt.“ Er erinnert sich, dass die ausgemergelten Männer im Winter unter starker Bewachung die Straßen freiräumen mussten.

Die Kindheit endete abrupt als die Mutter mit ihren drei Kindern (der jüngste Bruder war erst zwei Jahre alt) vor den Kriegsangriffen floh – zunächst über die Neiße zu den Großeltern in Görlitz und dann gemeinsam weiter über Reichenbach und Löbau nach Seifhennersdorf zu Verwandten. „Wir durften nicht auf der Straße gehen, da diese für Militärfahrzeuge frei bleiben musste. Also zogen und schoben wir unsere Wagen über schmutzige Nebenstraßen.“ Groß war die Freude als der Vater plötzlich mit dem Fahrrad in Seifhennersdorf ankam. Da er in Niesky als Flieger abkommandiert wurde, war er auf dem Weg nach Böhmisch Kamnitz (liegt heute in Tschechien und heißt Česká Kamenice). „Als er ein Zimmer für uns gefunden hatte, folgten wir ihm und erlebten die letzten Kriegstage dort als Familie.“ Als der Krieg zu Ende war, ging die Familie wieder zurück nach Görlitz in die alte Wohnung in der Schenkendorffstraße. „Es waren wohl höchstens vier Wochen, die wir wieder in unserer Wohnung verbrachten“, erinnert sich Rösler. Dann kam die Aufforderung die Wohnung bzw. den östlichen Teil der Stadt innerhalb von 15 Minuten zu verlassen und die Familie floh zum zweiten Mal. Dieses Mal für immer. „Mein Vater hatte nicht einmal Zeit, sein Fahrrad vom Dachboden zu holen.“ Die Familie kam in einem leerstehenden Hinterhaus in der Nähe der Großeltern unter. „Wir hatten keine Möbel, wir hatten nichts. Wir fielen ins Bodenlose.“ Rösler erzählt von dem großen Elend überall. In der Stadt herrschten Hunger, Not und eine Typhusepidemie. „Man kann nicht beschreiben, was in diesen Tagen und Wochen in Görlitz los war“, fehlen ihm heute noch die Worte. „Nach drei Tagen bin ich mit meiner Mutter noch einmal zurück in die Wohnung, um ein paar Sachen zu holen.“  Auf dem Rückweg hatte der damals 11-jährige Wolfgang ein Deckbett auf dem Rücken gebunden. Während sich Mutter und Sohn in den Flüchtlingstreck aus dem Osten einreihten, riss eine Brückenwache die Bettdecke vom Rücken und warf sie Richtung Neiße. „Sie landete neben dem Wasser, so dass sie als Beutegut zurückblieb.“ Und die Familie hatte keine Bettdecke.

 „Was meine Mutter durchgemacht hat, hat sie uns nie spüren lassen, aber im Nachhinein kann ich das nachempfinden. Gesprochen wurde damals kaum, es ging ja in erster Linie um das Überleben. Wir mussten funktionieren.“ Rösler erzählt, dass er mit seiner Mutter oft am Neißeufer stand und mit Tränen in den Augen in Richtung Heimat schauten.

Rösler begann 1948 eine Ausbildung zum Feinmechaniker in Görlitz und arbeitete bis zur Schließung des Betriebes 1990 als Meister im gleichen Betrieb. Über Jahrzehnte hatte er Mitarbeitende aus Polen, überwiegend Frauen, die morgens mit dem Bus zur Arbeit kamen und abends wieder zurück nach Polen fuhren. Sie wohnten jetzt in „seiner“ Heimat, die er verlassen musste. „Aber diese Menschen hatten das gleiche Schicksal erlebt wie ich. Sie wurden aus ihrer Heimat rund um Lemberg vertrieben.“ Rösler ist dankbar, dass er sich dank dieser Mitarbeiterinnen mit dem Schicksal der Polen verbunden fühlt. „Ich habe als Meister immer Wert daraufgelegt, dass die polnischen Arbeitskräfte genauso behandelt wurden wie die deutschen.“ Er erzählt von Geschenken zu Geburtstagen und schwärmt von den großen Blumensträußen aus Polen, die es in der DDR kaum gab. Er holt Kaffeegeschirr aus dem Schrank: „Ein Geschenk von den Polen.“ Eine polnische Mitarbeiterin organisierte ihm eine Einladung, damit er einmal in das Riesengebirge fahren konnte. Aber zu seinem Wohnhaus im heutigen Zgorzelec ging er damals nicht. Erst Jahrzehnte später als die Grenzen schon lange offen waren, spazierte er durch Zgorzelec. Anhand von neuen Farbfotos und alten Stadtplänen zeigt er heute die Spuren seiner Kindheit. „Dieser Stadtteil hat nun einen städtischen Charakter bekommen und viel von den kindlichen Freiheiten zum Spielen und Toben eingebüßt.“

Rösler ist dankbar, dass er mit seiner Frau gemeinsam nach der Wende in eine Neubauwohnung mit Fahrstuhl ziehen konnte. Im letzten Jahr ist seine Frau nach über 70 Jahren Ehe gestorben. Rösler geht täglich in seinen Garten und kümmert sich um seine zwei Jahre ältere Schwester. „Ich fühle mich entschädigt für alles, was ich durchgemacht habe.“

Wolfgang Rösler empfiehlt das Buch „Lebenswege ins Ungewisse“. Es ist als Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Schlesischen Museum zu Görlitz 2011/2012 erschienen. Herausgegeben ist es von Martina Pietsch im Auftrag der Stiftung Schlesisches Museum zu Görlitz.

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