„Wir haben den Nazis das Bier weggekauft“

Dr. Michael Schlitt redet nicht gerne über sich selbst. Er erzählt begeistert von den engagierten Menschen und der starken Zivilgesellschaft in Ostritz, eine Kleinstadt in Sachsen zwischen Zittau und Görlitz. Der 65-Jährige leitet seit 27 Jahren die Stiftung Internationales Begegnungszentrum St. Marienthal (IBZ) in den ehemaligen Wirtschaftsgebäuden der gleichnamigen barocken Klosteranlage direkt an der Neiße.

Ein Gebäude nach dem anderen wurde in den letzten 25 Jahre mit viel finanzieller und ideeller Unterstützung aus ganz Deutschland saniert und einer neuen Nutzung zugeführt. „Vermutlich ist der heutige Zustand sogar besser als jemals zuvor in der Geschichte des Klosters“, mutmaßt Schlitt. Sein Wirken geht aber weit über die Klosteranlage hinaus. Er setzt Impulse in der Stadt und in der Region.

Überregional bekannt wurde die Stadt durch die ‚Ostritzer Friedensfeste‘ als Antwort auf Musikfestivals von Neonazis in einem ehemaligen Hotel in der Stadt mit zum Teil mehr als  tausend Besuchern. „Wir überlassen den Neonazis nicht unsere Stadt“, beschreibt er die Motivation der Bürger zu dem ersten Friedensfest 2018 auf dem großen Marktplatz. Mittlerweile gab es sieben Friedensfeste mit Teilnehmerzahlen zwischen 1000 und 3000 Menschen. „Hier engagieren sich Bürger für ein demokratisches Miteinander und gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Extremismus jeglicher Art“, so Michael Schlitt als einer der Hauptakteure. Das IBZ ist dabei Veranstalter der Ostritzer Friedensfeste. Der größte Teil der Organisation wird jedoch von einem ehrenamtlichen Organisationsteam geleistet. Und die Stadtverwaltung Ostritz mit der Bürgermeisterin ist der dritte wichtige Akteur.

Schlitt berichtet von spektakulären Aktionen: „Wir haben den Neonazis das Bier weggekauft.“  Um das verhängte Alkoholverbot zu umgehen, wollten die Neonazis im Supermarkt Bier kaufen. „Doch wir waren schneller. Meine Mitarbeiter und ich haben fast sämtlichen Alkohol aufgekauft.“  Das nächste Friedensfest ist in Planung, diesmal nicht als Antwort auf ein Neonazi-Festival, sondern am 15. September zum Tag der Demokratie. „Dank dieses Engagements sind wir jetzt nicht als die braune Stadt in Sachsen in den Schlagzeilen, sondern als die Stadt, die gegen Nazis kämpft und sich weltoffen und tolerant zeigt.“

Besonders stolz ist er, dass Ostritz durch die Mitwirkung des IBZ seit dem Jahr 2000 ‚Energie-ökologische Modellstadt‘ ist. „Als erneuerbare Energien noch für viele ein Fremdwort war, setzte man in Ostritz schon auf Wind, Sonne und Wasserkraft zur Stromgewinnung. Stadt und Kloster werden mit Wärme aus einem Biomasse-Heizkraftwerk auf Basis der nachwachsenden Rohstoffe Holz und Pflanzenöl versorgt. Und das in einer Region, die bis in die 1990er Jahre von drei Braunkohlekraftwerken umgeben war und als das ‚Schwarze Dreieck‘ galt“, erläutert Schlitt.

Umweltbildung und -aktionen sind fester Bestandteil des Wirkens des IBZ. Seit 20 Jahren treffen sich die Mitarbeitenden zur Aktion ‚Saubere Neiße‘, um Müll aus dem Fluss zu holen. „Wir haben mittlerweile mehrere tausend Altreifen aus der Neiße geborgen und entsorgt.“  Schlitt erläutert: „Man kann sich über den Müll beschweren oder selber anpacken.“ Er stellt aber auch klar, dass man allein gar nichts bewegen kann, sondern immer nur mit einer „starken Mannschaft“. 

Neben allen Aktionen gehört das Leiten der Stiftung IBZ mit etwa 150 Veranstaltungen pro Jahr und 50 Mitarbeitenden zu den Kernaufgaben des Vorstandvorsitzenden. Ziel der Stiftung ist die Förderung der Begegnung von Menschen ohne Unterschied des Geschlechts, des Alters, der nationalen Herkunft und der Religion. Die Stiftung hat vier große Ziele für die Zukunft definiert: Stärkung der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts, Umweltbildung und Biodiversität, internationale Verständigung sowie Ausbau der wirtschaftlichen Bereiche des IBZ wie Wiederaufbau einer Klosterbrauerei und-bäckerei gemeinsam mit dem Klosterstift. „Wir bekommen keine institutionelle Förderung, sondern arbeiten rein projektorientiert.“ Schlitt vergleicht die Arbeit mit einem mittelständischen Unternehmen, das nicht weiß, welche Aufträge es bekommt. „Wir überlegen, was es für Bedarfe gibt und entwickeln dementsprechend Projekte. Auftraggeber sind dann EU, Bund, Freistaat Sachsen und diverse Stiftungen.“

Schlitt geht in einem Jahr in den Ruhestand, „aber nur als Stiftungsvorsitzender, nicht als engagierter Bürger“. Ein Denkmal hat er für den Klosterhof schon organisiert: ein ‚Wir-Denkmal‘. „Wir setzen all denjenigen ein Denkmal, die sich für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und ein gutes Miteinander von Menschen unterschiedlicher Nationen, Religion, Weltanschauung und Hautfarbe einsetzen.“ Das Denkmal besteht lediglich aus einem großen steinernen Sockel ohne Statue. Es lädt Besucher*innen ein, den Sockel zu besteigen – möglichst nicht allein – und sich fotografieren zu lassen, um so selbst zum Denkmal zu werden.

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