Persönlicher Kulturbeutel statt nationaler Identität

Michaela Herlingová bezeichnet sich als Europäerin. Sie wohnt im Dreiländereck Polen-Tschechien-Deutschland. Geboren und aufgewachsen ist sie in Nordböhmen nahe der Grenze zu Polen und Deutschland. Seit bald 20 Jahren lebt sie in Zittau. Ihr Mann stammt aus Chemnitz. „Ich denke nicht in Nationalstaaten“, so die 39-Jährige in einem Gespräch am Dreiländereck am Neißeufer.

„Die Fragen nach deutscher Kultur und tschechischer Kultur tragen nicht viel zum Verständnis bei. Gerade in dieser Region haben sich die Grenzen immer wieder verschoben, so dass auch die Geschichte der Region grenzüberschreitend ist. „In Böhmen lebten bis 1945 viele Deutsche. Die Erzdiözese Prag hatte ihren Sitz im 15. Jahrhundert in Zittau“, erklärt Michaela.

Als Schülerin der sechsten Klasse war sie das erste Mal zu einem Schüleraustausch in Deutschland – nicht in der Grenzregion, sondern im thüringischen Gera. „In dieser Woche habe ich so viel Deutsch gelernt“, erinnert sie sich. Wahrscheinlich wurde hier auch das Interesse an der deutschen Sprache geweckt. Zumindest setzte sie bei ihren Eltern durch, dass sie das deutsche Gymnasium in Liberec besuchen durfte. Die junge Tschechin lebte während der Woche im Internat, da der Schulweg sonst zu weit gewesen wäre. In der 11. Klasse besuchte sie für ein Jahr das Gymnasium im fränkischen Wiesentheid. Michaela schwärmt noch heute: „Die nette Familie, das hübsche Städtchen, die Weinberge und die Weinfeste.“ Nach ihrem Schulabschluss – deutsches und tschechisches Abitur –  studierte sie in Zittau „Fachübersetzen“ für Tschechisch, Deutsch und Englisch. „Im ersten Jahr pendelte ich noch täglich von Hrádek nad Nisou nach Zittau.“ Dafür musste sie jeden Morgen und Abend zwei Grenzen mit Grenzkontrollen passieren – von Tschechien nach Polen nach Deutschland und zurück. 2004 entschied sich die junge Studentin, nach Zittau zu ziehen, um besser in das Leben an der Hochschule und in der Stadt eintauchen zu können. Noch heute lebt sie mit ihrer Familie hier – mit Begeisterung.

„Im Dreiländereck ist Europa heute Alltag.“ Die Menschen besichtigen Burgen in Tschechien, fahren zum Einkaufen nach Polen, zum Baden nach Deutschland, pendeln über Grenzen zum Arbeiten und abends treffen sie sich irgendwo in der Euroregion Neiße. „Trinationale Freundschaften und Beziehungen sind hier Alltag – von Schulen über Sportvereine bis Feuerwehren.“  Dadurch sei das Interesse am Sprachenlernen groß und das in allen Altersstufen vom Kindergarten über Schule bis hin zur Erwachsenenbildung. Sie berichtet von Plänen, Erzieher und Erzieherinnen aus den jeweiligen Nachbarländern in den Kindertagesstätten als Muttersprachler einzustellen. „Eine tolle Idee, aber bisher scheitert das noch, da die Berufsabschlüsse nicht anerkannt werden.“

Michaela hat viele Jahre freiberuflich in verschiedenen Projekten im Bereich Soziokultur, Interkulturalität und Diversität gearbeitet. Begegnungen von Menschen aus verschiedenen Ländern mit verschiedenen Sprachen standen dabei im Mittelpunkt. „Wir haben sie unterstützt, sich mit Offenheit zu begegnen, persönliche Grenzen zu überschreiten und gemeinsam etwas Neues zu schaffen“, so die Fachübersetzerin und Dolmetscherin.  Dieses Know-how bringt sie mittlerweile bei der Volkshochschule Dreiländereck als Verantwortliche für den Bereich Sprachen ein. 

Michaela ist überzeugt, dass eine lebendige Grenzregion überregionale Strahlkraft entfalten kann und auch positive Impulse für ein funktionierendes Europa der Regionen setzen kann. „Wer die Begegnungen sowie das Leben und Arbeiten ohne Grenzen hier im Dreiländereck erlebt und erfahren hat, trägt das auch in andere Regionen.“ Sie bezeichnet die vielen interkulturellen Projekte und die grenzenlose Kulturszene als ein Aushängeschild für die Region. „Und diese Region braucht dringend Menschen, die nach vorne schauen, die Lust haben, etwas zu bewegen und bereit sind, Veränderungen zu gestalten.“

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